Die Zuständigkeit des Wohnsitzmitgliedstaats für die Gewährung „besonderer beitragsunabhängiger Leistungen“ kompensiert in diesem System den Umstand, dass diese Leistungen – im Unterschied zu anderen Leistungen – gerade nicht grenzüberschreitend exportiert werden können. Wenn nun im Anwendungsbereich des Koordinationsrechts der Wohnsitzmitgliedstaat Personen von besonderen beitragsunabhängigen Leistungen ausschließen kann, diese aber auch nicht aus dem Herkunftsmitgliedstaat exportiert werden können, kann es passieren, dass Unionsbürger*innen von keinem der mitgliedstaatlichen Sozialsysteme mehr erfasst werden. Genau dieses Ergebnis sollte historisch mit der Einigung auf ein umfassendes Koordinierungsrecht vermieden werden.(…)
Aufenthaltsrecht automatisch ade?
Doch selbst auf der aufenthaltsrechtlichen Seite bleibt das Urteil unbefriedigend. Denn der Gerichtshof nimmt nicht Stellung zur Frage, ob der Bezug von Sozialleistungen zum automatischen Verlust des Aufenthaltsrechts führen darf. Seit der Rechtssache Grzelczyk 2001 war es gefestigte Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass der Bezug von Sozialleistungen nicht automatisch den Verlust des Aufenthaltsrechts nach sich zieht, sondern stets die Umstände des Einzelfalls zu beurteilen sind. Dieser Grundsatz der Einzelfallprüfung findet sich im heutigen Urteil nur noch mit viel gutem Willen als versteckter Hinweis in Rn. 80.